Wednesday, July 29, 2020

Sintflut

Günter Kunert
Sintflut (1975)

Die Sintflut beginnt unmerklich. Vorerst steigen die Flüsse um wenige Zentimeter. Es regnet nicht einmal häufiger als sonst, aber anhaltender. Und es dauert länger als nach früheren Güssen, bis das Wasser wegsickert. Eines Tages verrinnt es gar nicht mehr, und die kleinen Pfützen bleiben stehen. Die Industrie wird mehr Regenschirme herstellen, mehr Gummistiefel, doch das sind die einzigen Maßnahmen, die man trifft. Ein paar Wetterkundler weisen auf Merkwürdigkeiten im Wetterablauf hin, nur versteht ihre wissenschaftliche Sprache kein Mensch, und ihre Entdeckung wird sofort wieder vergessen.

Wenn die Flüsse über die Ufer steigen, wird man es dem jeweiligen Landesfeind ankreiden, doch weil die Nachrichtenübermittlung nicht zu verhindern ist, erfährt alle Welt von der synchronen Überschwemmung vieler Gebiete der Erde.

Die Pfützen werden Tümpel, Teiche, Seen, die sich zu kleinen Meeren zusammenschließen. Es wird hauptsächlich von einer vorübergehenden Krise der Witterung gesprochen werden, von einer Verlagerung der Erdachse oder Ähnlichem. Jeder Staat wird insgeheim Fachleute aus Venedig anheuern, deren Erfahrung das wässriger werdende Leben erleichtern soll. Die Bevölkerung, die sich bereits in die oberen Stockwerke der Häuser zurückgezogen hat, wird von Booten aus versorgt und gewöhnt sich langsam an den Zustand, denn es gehört zu den vornehmsten Aufgaben einer Bevölkerung, sich an Zustände zu gewöhnen. Eine bekannte Persönlichkeit prägt endlich den Satz vom "Leben mit dem Wasser", der bald in aller Munde ist.

Leider wird die Gewöhnung immer wieder gestört, und zwar durch das Wasser selbst, das, von den vielen beruhigenden Zeitungsartikeln unbeeindruckt, ständig weiter steigt. Weniger Kähne als gedunsene Leichen treiben durch die Straßen, die beiderseits von den Dächern der noch nicht abgesackten Gebäude markiert werden. Hunger greift um sich, Seuchen, bitterste Not und bitterste Angst. Hubschrauber fliegen über die aus den Wellen ragenden Reste und werfen Flugblätter ab, des Inhalts, dass alles getan werde, das Unglück abzuwenden.

Gläubig lesen die Ertrinkenden die druckfeuchten Blätter. Den Sterbenden hält man die Zettel vor die Augen, die der Tod schon trübt. Von den Dächern der Wolkenkratzer spült die Flut die letzten Lebenden, die niemals erfahren, dass eine Sintflut über sie gekommen: Das zu verheimlichen, wird allen Beteiligten wichtiger sein, als in dem zunehmenden Regen, in den schwellenden Bächen, den andauernden Wolken die beginnende Katastrophe zu erkennen.

Für eine weitere Sintflut würde man nun viel besser vorbereitet sein, wenn man nicht schon bei der ersten untergegangen wäre.

(aus: Ders. Der Mittelpunkt der Erde. Berlin 1975, S. 60ff.)




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